Von „Bling-Bling“ nach „Coin-Coin“

Wohl gestärkt und ausgeruht rollen wir mit Rückenwind (endlich mal) nach Nizza. Wir wollen den Kontrast, wollen nützlich sein und verlassen nun die Côte d’Azur mit dem Zug hoch in die Mittelmeeralpen.

Die Zugstrecke des „Train de Merveilles“ ist atemberaubend. Der Zug fährt in zwei Stunden, 100 km, über 66 Brücken, entlang an steilen Hängen, kurvenreich (auch im dunklen) Berg, auf 1.000 Höhenmeter (!). Völlig spektakulär. Unsere Endstation ist Tende im Roya-Tal.
Das Tal war einmal italienisch, wurde nach dem 2.Weltkrieg aber französisch. Die Architektur ist stets italienisch/ligurisch und die Einwohner:innen können oft auch Italienisch.

Das Roya-Tal ist bekannt durch seine Hilfsbereitschaft für geflüchtete Menschen. Vor allem Cédric Herrou, ein (ehemaliger) Geflügelzüchter, der heute zum Sinnbild Frankreichs für Solidarität mit geflüchteten Menschen geworden ist. Das Tal grenzt an Italien und ist eine bei jeder Jahreszeit genutzte Route von geflüchteten Menschen. Herrou half vom ersten Tag an. Der französische Staat ging über fünf Jahre juristisch gegen ihn vor. Der „Delikt“ : Solidarität 🤦. Gute Nachricht, der Staat hat zuletzt verloren! ✊ Mehr Infos

Angekommen in Tende schlafen wir zunächst auf einem geschlossenen aber zugänglichen Campingplatz und treten am nächsten Morgen unsere Fahrräder auf 1.300 m, zum am Berg abgelegenen Bio-Hof „Lamentarghe“. Auf dem Hof lebt Felix (der Sohn von Anne und Christoph aus Cannes) mit seiner Familie und einem Freund. Sie leben vom Gemüseanbau und dem Verkauf von Eiern. Der Hof befindet sich seit mehreren Jahren im Wiederaufbau aus Ruinen (anno Anfang des 20. Jhd.). Wasser gibt es leicht gefiltert und kalt aus dem Bach. Der Strom läuft nur, wenn die Solaranlage genug LKW-Batterien aufgeladen hat. Ziemlich „roots“ sagen wir vielleicht dazu. Andere sagen „radikal“. Uns passt diese Art von Selbstversorgung und Entschleunigung gut. Wir verbringen fünf Nächte bei ihnen und machen ein paar Tage „Woofing“ : verteilen Mulch in den Beeten und pflücken Hagebutten bei Sonne, und kochen, bei Regen, 42 kg Apfelmus, 8 kg Quitten („Coin“) und 6 kg Hagebutten-Marmelade ein. Das Wetter ist hier radikal, entweder Sonne und T-Shirt oder Starkregen und geschlossener Zwiebel-Look.

Die Bewohner:innen erzählen von der Entwicklung des Hofs. Wir lernen auch den super netten Hannes aus Berlin kennen, der hier sogar einen Monat wooft. Wir machen schöne Spaziergänge am Rande des Mercantour-Nationalparks, spielen Gesellschaftsspiele am muckeligem Holzofen und lernen mit Siebenschläfern (es gibt sie noch) zu schlafen.

Nach einem Sturm brechen wir am 5. Tag mittags auf, die Huckelpiste den Berg hinunter. Das erste Mal fahren wir den ganzen Tag bergab. 63 km, durch einen nicht ungefährlichen Autotunnel (#nochoice) und über die (bergab-)kontrollfreie Grenze nach Italien, ans Meer nach Ventimiglia. – Hier treffen wir direkt auf ein Viertel, in dem dutzende Migrant:inn:en unter Brücken schlafen. Diese andere Realität hat uns schnell eingeholt.

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