Schutt, Staub, keine Tränen

[Seien Sie vorsichtig, ein etwas trauriger Artikel]

Wir verlassen das Hochzeitsrestaurant in Kâtha (Danke Abdullah!) und steuern Richtung Adiyaman. Der Weg ist geschmeidig: kleine Straßen, wenig Verkehr und Menschen, die uns Tee anbieten. Bei einer Familie machen wir halt, weil es schlicht nicht einfach ist, ständig an Freude strahlenden Gesichtern vorbeizufahren. Aus einem Tee, werden vier Tee und ein zweites Frühstück. Kommunikation hier nur mit Hand und Fuß, mit Lächeln und Lachen.

Auf der restlichen Strecke fällt uns auf, dass in vielen Gärten blaue Notfallzelte aus China stehen. Am Ende kommen noch welche von AFAD und dem türkischen roten Halbmond dazu. Sie werden offenbar als Lager und Unterstand genutzt. Dann sehen wir am Horizont auf einem Bergkamm eine Art „Kranstadt“: ca. 30 Kräne und dazwischen kahle Betontürme.

Wir fahren in Adiyaman ein und dann fällt der Groschen, denn: das Stadtzentrum ist schnell extrem staubig. Adiyaman war eins der Epizentren der Erdbeben im Februar 2023! Allein in dieser Stadt starben über 8.000 Menschen. Unbegreiflich!? Es wird mit jedem Kilometer greifbarer. Die großen Freiflächen und Lücken zwischen den Hochhäusern, die vielen leerstehenden nackten Hochhäuser, alles Ausbaubare ist abmontiert. Es sind große Rissen in den Fassaden, abgebrochen Balkone und offene Seitenwände zu sehen… Wir sind schnell sehr bedrückt.

Unser Gastgeber ist Ismail. Er ist Ende 30 und empfängt uns mit einer warmen Mahlzeit in seiner Wohnung im (stehengebliebenen) Hochhaus in der 8. Etage. Ismail freut sich sehr, uns als Gäste zu haben. Er erzählt von seiner Familie, von den lokalen Produkten vom ländlichen Hof der Familie. Der Tisch bzw. die Decke auf dem Boden ist reichhaltig gedeckt. – Wir brauchen etwas, um „warm“ zu werden. Und tatsächlich dauert es nicht lang, dass wir auf die Erdbebenkatastrophe zu sprechen kommen: „Oh Gott, wo warst du? Wie geht’s deiner Familie? Willst Du darüber sprechen?“ Er hatte Glück, an jenem Wochenende auf dem Hof der Familie geschlafen zu haben, und dass sein Hochhaus dem Beben Stand hielt. Aber er erklärt uns auch, dass er und die meisten Menschen hier im Schnitt 10 Personen, Familienangehörige und/oder Freunde, verloren haben. 10! Puh, die Bedrückung kommt zurück.

Wir duschen erstmal schnell und waschen uns die Bedrückung ab, bevor wir ausgehen, denn Ismails Freunde wollen uns auch gerne kennenlernen. Wir fahren zu einem befreundeten Paar, welches in einer der vielen großen Containersiedlungen lebt. Wir unterhalten uns den Abend sehr angenehm über Reisen, Europa, über Erdogan, über die Unterdrückung der Minderheiten, Religionen, Atheismus, über Kultur, Musik und Kurdistan. Und irgendwann kommen wir doch auf die Katastrophe zurück. Ismails Freundin befand sich in einem eingestürzten Haus und konnte sich wie ein Wunder selbst aus den Trümmern befreien. Der Freund zeigt uns ein Video mit befreundeten Musikern eines gemeinsamen Abends, an dem sie zwei Tage vor dem Beben gemeinsam musizierten. Sie waren nur zu Besuch und lebten gar nicht in der Stadt. Sie kamen ums Leben. In diesem Moment der Erzählung verstummen wir alle, haben Tränen in den Augen und kehren kurz in uns. Durchatmen. Der Freund erklärt, dass der Schock stets stärker als die Trauer sei, er als junger Mann noch um verstorbene Haustiere weinte, doch seit dem Beben nicht weinen konnte.
Das ist hartes Zeug. Wir sind aber in dem Moment irgendwie auch froh da gerade zusammen zu sein und von diesen persönlichen Erlebnissen zu erfahren. Die drei freuen sich darüber, dass wir nach Adiyaman gekommen sind und uns für die Menschen und Realitäten dort und im Osten der Türkei interessieren.

Wir merken noch später, dass dies eine gänzlich andere Erfahrung für uns war, weil wir zu zweit noch mehrmals drüber sprechen müssen.

Am nächsten Tag müssen wir die Stadt zum Busbahnhof durchqueren. Die Pressluftbagger und LKWs sind an vielen Ecken unterwegs. Menschen sammeln immer noch Metalldrähte aus den Trümmern. Auf der Busfahrt sehen wir viele große Flächen mit aufgeschütteten Schutt weit draußen auf dem Land.

Bei der Durchfahrt von Kahramanmaras, ebenso heftig getroffen, sehen wir mindestens Zweikilometer lang nur leere entkernte Hochhäuser, die auf ihren Abriss warten.

Es ist das letzte Erlebnis aus dem Osten der Türkei.
Nächster Halt, zehn Stunden später: Kayseri.

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